Sonntag, 27. September 2015

Die graue Wand - eine Kurzgeschichte

(Das Bild hat mich dazu inspiriert)


Der Junge setzte sich auf den Steinboden, lehnte seinen Rücken an die Wand und streckte seine Beine aus. Er schaute hinaus in die Welt. In die graue, verschleierte Welt. Er schaute über das graue Meer hinaus die Stadt an. Graue Türme wanden sich nach oben. Dicht an dicht. Wolken zogen auf, und somit auch der Nebel. Der Junge, Erik, dachte an die Menschen, die in dieser Stadt wohnen. Wie sie jeden Tag ihren langweiligen, grauen Alltag bändigen müssen. Tag für Tag.
Er dachte an die Geschäftsmänner, die jeden Tag in ihren schwarzen, tristen Anzügen herum laufen und ja nicht den nächsten Termin verpassen dürfen. Danach würden sie spät abends zu ihrer kleinen Familie zurückkehren, sie würden es verpasst haben, dem kleinen Sohn gute Nacht zu sagen. Sie würden ihre ältere Tochter im Zimmer mit ihrem Freund telefonieren hören, und ihre Frau würden sie vor dem Fernseher wieder finden, nachdem sie stundenlang auf ihren Mann gewartet hat. Sie würden etwas essen, sich auch vor den Fernseher setzen, und irgendwann ins Bett gehen. Wie jeden Tag.
Er dachte an die Frauen, die aufstehen, und dann im Haus herum wuseln, um ihren kleinen Sohn zu wecken, an der Tür der Tochter zu klopfen und Essen vorzubereiten. Danach würden sie sich und ihren Sohn fertig machen und ihn zum Kindergarten, und sich selbst zur Arbeit zu fahren, um am Nachmittag gestresst wieder zu kochen, sich dann vor den Fernseher zu setzen um stundenlang auf den Mann zu warten, bis dieser alles verpasst und sich das gekochte Essen holt und sich neben sie setzen würde.
Erik dachte an die jugendlichen Mädchen, die jeden Tag von einem erschreckenden Klopfen ihrer Mütter geweckt werden, um sich dann stundenlang fertig zu machen, nur um so gut auszusehen, dass sie nicht ganz missachtet werden. Danach würden sie in die Schule fahren, und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was die anderen gerade über sie denken. Sie würden die acht Stunden Schule schaffen, um dann gestresst und genervt nach Hause zu kommen, wo niemand auf sie wartet. Sie würden sich etwas zu Essen machen, um danach ordentlich Hausaufgaben machen zu können, die sie eh nicht verstehen. Danach würden sie sich im Internet beschäftigen, wo sie nach dem Sinn des Lebens suchen, und Musik hören, die ihnen gefällt. Als nächstes hören sie sich die alten Mailboxnachrichten von ihrem Exfreund an, um sich nicht ganz alleine zu fühlen. Sie würden ihren Vater hören, wie er an ihrer Zimmertür vorbei geht und niemand auch nur einmal nach ihnen schaut. Nachts würden sie fast an ihrer Einsamkeit verzweifeln, und schlafen irgendwann ein.Erik konnte nicht aufhören, an die Mädchen zu denken, die so viel Leid ertragen müssen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man so ein Leben führen konnte. Er kannte da mal ein Mädchen, der es genauso ging. Sie fühlte sich so alleine, dass sie irgendwann daran zerbrach. Irgendwann sah sie niemand mehr, und Erik ging los, um sie zu suchen. Er durchsuchte die ganze Stadt. Doch Jahre vergingen, und bald interessierte sich niemand mehr für das Mädchen. Nur Erik dachte noch jeden Tag an sie. Und so beschloss er eines Tages, aus der Stadt auszubrechen, dem grauem Alltag zu entfliehen. Er durchsuchte die Umgebung, und bat einen Fischer, ob er ihn denn auf die andere Seite bringen könnte. Und auch dort suchte er. Doch er fand sie nicht. Und doch fand er, war nun ein besonderer Moment gekommen. Vor Jahren, als das Mädchen verschwand, hatte er einen Zettel von dem Bett des Mädchens genommen, traute sich aber nicht ihn zu lesen. Doch nun zog er den Zettel aus seiner Hosentasche, faltete ihn auseinander und las ihn sich durch.
Nun wusste er, wo sie hingegangen war. Nun wusste er, warum vor zehn Jahren ein Zugunglück war.
In diesem Moment dachte er an die kleinen Jungs, die so glücklich waren.Denn er war selbst so ein Junge. Und das verschwundene Mädchen seine Schwester.

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